Mit Standlicht durch die Welt – Von großen Visionen und dem Status Quo

Es ist 12 Uhr nachts und stockduster. Selbst im lichtdurchfluteten Schweden ist es nachts vorbei mit dem Licht, wenn man wie wir mitten durch den Wald fährt. Flo sitzt am Steuer, ich halte meinen rechten Arm weit aus dem Beifahrerfenster, um den schmalen Waldweg mit dem iPhone zu beleuchten. Der kühle Fahrtwind lässt meinen Arm erstarren. Mein ganzer Körper zittert innerlich und ist doch auf Überleben eingestellt. Nichts wie weg hier!

Der Schock von der Begegnung eben sitzt uns noch in den Knochen. Erst ein betrunkener Glatzköpfiger auf dem einsamen Waldweg, der gegen unseren Bus haut und unverständliche Worte murmelt. Und dann bei der Schranke nach 10 km Waldschotterweg, die uns zum Umkehren zwingt, ein weiterer betrunkener Glatzkopf, der mich komplett ignoriert, als ich nach dem Weg fragen will. Dann um Mango herumläuft, eine Hand in der Jackentasche, als würde er überlegen, ob er uns jetzt gleich mit seinem Revolver erledigt oder damit von dannen jagt.

Während mein Arm weiter durchhält als Taschenlampe, will mein Kopf immer wieder zu einem Schütteln ansetzen, als würde er sagen „Das darf nicht wahr sein“.

So geht es nicht weiter, wir brauchen Licht.

Schon seit Tagen sind bei Mango Abblend- und Fernlicht ausgefallen. Da es abends so lange hell ist und das Standlicht reicht, um das schwedische Lichtfahrgebot zu befriedigen, haben wir den Werkstattbesuch vor uns hergeschoben. Wer soll uns auch hier in der Pampa mit einem VW-Oldtimer helfen können?!
Bereuen wir natürlich bitter in diesem Moment.

Vor zwei Stunden ist uns in der nächstgelegenen Ortschaft ein Mann entgegengerannt, als er Mango gesehen hat. Hat von den Bullitouren in seinen 20ern geschwärmt und ohne dass wir nachgefragt hätten von DEM VW-Guru Schwedens erzählt. Er wohnt nur 35km von hier! Wahnsinn, oder? Mit dem Plan, bei diesem am nächsten Tag aufzuschlagen, wollten wir bloß ein Nachtquartier am nächsten See finden und schwuppdiwupp fanden wir uns im glatzköpfigen Finsterwald wieder.

Inzwischen wird der Waldweg immer breiter und mündet letztenendes in eine asphaltierte Straße, die uns der Zivilisation wieder näher bringt. Und weg von den Glatzköpfen. Die Straßenbeleuchtung löst mich ab und mein Arm kann verschnaufen. Wir finden einen Stellplatz für die Nacht nahe am Ort und beruhigen uns mit einer Runde Backgammon und Pfefferkeksen.

Doch am Morgen wachen wir mit Sorgen und Ängste auf, kriegen uns gleich mal in die Haare. Mit einem mobilen Sonnenschein auf 4 Rädern unterwegs zu sein, feit auch davor nicht.

Es ist schon fast ein humoristisch ausgeklügelter Spiegel, den uns das Universum hier anbietet: Wir sind bloß mit Standlicht unterwegs. Wir sehen maximal einen Meter vor uns. Alles ist auf das Jetzt gerichtet. Gelingt es uns, darin aufzugehen, führt das zu Freude und Leichtigkeit und einer wunderbar verbindenden Zeit als Paar, die wir lange nicht hatten. Wehe aber die übernächsten Meter kommen ins Gespräch. Dann sind sie sofort alle da: Die Ängste und Sorgen,wie es wohl weitergeht.

Es gibt zwar eine wunderschöne Vision, die uns verbindet, doch haben wir aktuell den Scheinwerfer nicht, um den Weg dahin zu beleuchten. Sie scheint so unendlich weit entfernt und wir tappen buchstäblich und sprichwörtlich im Dunkeln.

Wir teilen uns hier, was das Zeug hält, aber wollen wir jetzt Instagram-Influencer werden oder was? Kommen wir unserem Ziel so näher? Bewegen wir was? Berühren wir euch? Und wie können wir uns diesen Lebensstil finanzieren? Wie erschaffen wir etwas Nachhaltiges? Was haben wir der Welt gemeinsam anzubieten? Wie kann Amelie ihre Stimmarbeit ohne feste Bleibe anbieten? Wie will Flo sich anderen zur Verfügung stellen? Wie gründen wir unseren Tribe unterwegs? Brauchen wir nicht erst ein Stück Land, auf dem wir starten? Aber wo? Und wie finden wir das? Und wann kriegen wir endlich Kinder?

Fragen über Fragen und der Wunsch, etwas zu erschaffen, wird mit jedem Meter stärker. Wir fahren jetzt mal zum VW-Guru und hoffen, dass uns Mango mit neuem Licht den Weg weist.

Und du, wenn du bis hierhin gelesen hast, kennst du das? Bist du auch ins kalte Wasser gesprungen? Hast dein altes Leben zurückgelassen und befindest dich nun in dieser Phase, wo das Neue noch nicht da ist oder zumindest noch nicht dein täglich Brot finanziert? Wie gehst du damit um?

Und du, alter Hase, hast du dich selbstverwirklicht und kannst davon schon leben? Hast du diese Phase schon er- und überlebt? Was hat dir geholfen? Was kannst du uns, die wir auf dem Weg sind, von da, wo du heute stehst, sagen?

Love,
eure Amelie

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